Frei wurde sie geboren

Operndirektorin Judith Lebiez über die Spielzeit 2023/2024

Das Musiktheater blickt auf zwei Spielzeiten brillanter, berührender, engagierter Produktionen zurück, die für spannende Gespräche in der Stadt und für überregionales Ansehen gesorgt haben. In den programmierten Stücken spiegelte sich der Ansatz, Geschichten zu erzählen, die unsere Gesellschaft betreffen, das Publikum weniger bekannte Stücke entdecken zu lassen und Uraufführungen zu wagen.

 

Daran anknüpfend erkundet das neu formierte Team um Judith Lebiez (Operndirektorin), Emil Roijer (Geschäftsführender Operndirektor) und Hans-Georg Wegner (Generalintendant) weiter, wie sich das Musiktheater mit gegenwärtigen Zuständen befassen und zukunftsorientierte Wege gehen kann. Zu diesem Zweck wollen wir auch den Blick in die Vergangenheit offen halten. Warnend sagte einst Heiner Müller: „Unsere Sehnsucht nach Vereinfachung will Gegenwart ohne Vergangenheit. Aber ohne Herkunft keine Zukunft. Nur in der Gegenwart leben ist bewusstlos leben.“ In diesem Sinne ist es uns für die Spielzeit 2023/2024 wichtig, uns auch mit Werken auseinanderzusetzen, die in früheren Zeiten verfasst wurden und die damals herrschenden Formen des politischen und sozialen Miteinanders offenbaren, von denen unsere Gesellschaft bis heute geprägt ist. Solche Werke bieten sowohl den Opernschaffenden als auch den Opernbesucher:innen die Chance, Einblicke in die zugrundeliegenden Strukturen unserer Gesellschaft zu gewinnen und wahrzunehmen, woher wir überhaupt kommen, um die Zukunft bewusster gestalten zu können.

 

Dennoch stellen Werke des tradierten Opernrepertoires Herausforderungen dar. Seit ihrer Entstehungszeit hat sich die Gesellschaft in eine demokratischere und inklusivere Richtung weiterentwickelt. Oft enthalten diese Werke Aspekte, die heute als sexistisch, rassistisch oder anderweitig diskriminierend gelten. Sollte man deshalb den größten Teil des Opernrepertoires von der Bühne verbannen, oder gibt es Wege, diese Werke zeitgemäß aufzuführen?

 

Zwar haben Komponist:innen und Librettist:innen die Vorurteile ihrer Zeit geteilt. Doch haben sie sich oft für sozialen Fortschritt eingesetzt. Auch wenn viele Opern ein problematisches Frauenbild vermitteln, haben ihre Autoren an der weiblichen Emanzipation mitgewirkt, indem sie das gesellschaftlich verursachte Leiden von Frauen dem Publikum erlebbar gemacht und Frauenfiguren zelebriert haben, die ihren eigenen Weg gehen. Vor La Bohème und Carmen hatte bestimmt mancher Opernbesucher kaum die Gelegenheit gehabt, vom Schicksal einer verarmten Näherin tief berührt zu werden, den Aufruf einer zutiefst freien Frau zu hören und durch diese Erfahrungen die eigenen Zwänge von Vorurteil und Gewalt abzuschütteln. Hat Musiktheater heute noch das Potenzial, zu einer gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen?

 

Zunächst beschäftigen wir uns mit einem Werk des Kernrepertoires, in dem die Protagonistin noch als zerbrechliche, todgeweihte Opferfrau gekennzeichnet wird. Mimìs Versuch, ihr Leben zu führen, wie sie es möchte, scheitert an ihrer armutsbedingten Krankheit. Ihre Mitstreiterin Musetta, die eher dem Bild einer frei lebenden Frau entspricht, bleibt in La Bohème eine Figur zweiter Reihe. Umgekehrt in Carmen: Da übernimmt die freie Frau die zentrale Position, während die Nebenfigur Micaëla den Archetyp der reinen Weiblichkeit verkörpert. Carmen, die auch den verschlossenen Don José auffordert, neue Horizonte zu entdecken, widmet sich ganz der Freiheit. Allerdings muss sie dafür sterben.

Inspiriert von Carmens Schrei der Revolte „Nie wird Carmen nachgeben! Frei wurde sie geboren und frei wird sie sterben!“ setzen wir das Grundthema der weiblichen Befreiung über die ganze Spielzeit 2023/2024. Die Reihenfolge der Stücke soll einen allmählichen Prozess der Emanzipation darstellen.

 

Würden Sie nicht auch gern Protagonistinnen mit einer höheren Lebenserwartung auf der Bühne sehen? In Leo Falls Die Dollarprinzessin zeigen sich alle drei Frauenfiguren als frei, ohne dafür sterben zu müssen (schließlich ist es eine Operette). Die Millionärstochter Alice verhält sich auf eine Weise, die männlich konnotiert ist. Somit darf sie in der Außenwelt zwar frei über sich selbst verfügen, bleibt aber zunächst in einem hyperkapitalistischen Wertesystem gefangen, bevor sie sich auch daraus befreit. Ihre Cousine Daisy überwindet ihre Vorurteile und den Einspruch ihres Onkels, um den Stallburschen Hans zu heiraten. Auch die Tänzerin Olga verwirklicht ihre Ziele.

 

Nach diesen drei Neuinszenierungen bestehender Werke führen wir zwei Projekte auf, die nicht-narrative Wege ergründen, Musiktheater zu machen. Die vierte Produktion der Spielzeit strebt danach, sich auf der ästhetischen Ebene von der patriarchalen Logik zu entfernen, die der zerstörerischen Ausbeutung der Erde zugrunde liegt, und durch die Partizipation von Bürger:innen an der Gestaltung des Projektes eine demokratische Musiktheaterform zu entwickeln.

 

Den Spielzeitabschluss widmen wir einem musiktheatralen Fest des weiblichen Empowerments. Es soll sowohl um die Befreiung der weiblichen Figuren von der Verdrängung ihrer Sexualität als auch um die Befreiung der Darstellerinnen von der sozial bedingten Körperinszenierung und um die Befreiung der Kunstschaffenden von den Opernkonventionen gehen. Das Projekt wird mit internationalen Künstler:innen und Koproduktionspartner:innen gestaltet und soll zum jetzigen Zeitpunkt noch ein Geheimnis bleiben. Seien Sie gespannt!

 

Wir freuen uns sehr darauf, Sie bei unseren Musiktheaterabenden mitnehmen und inspirieren zu dürfen.

Premieren 2023/2024

La Bohème
Oper von Giacomo Puccini
Libretto: Giuseppe Giacosa und Luigi Illica
Italienisch, mit deutschen Übertiteln
Premiere 8. September 2023, Großes Haus

 

Carmen
Oper von Georges Bizet
Libretto: Henri Meilhac und Ludovic Halévy
Französisch, mit deutschen Übertiteln
Premiere 10. November 2023, Großes Haus

 

Die Dollarprinzessin
Operette von Leo Fall
Libretto: Alfred Maria Willner und Fritz Grünbaum
Premiere 19. Januar 2024, Großes Haus

 

Uraufführung
Stoff
Zirkuläres Musiktheater
Musik: Konstantia Gourzi, Text: Nina Gühlstorff und Bürger:innen
Premiere 5. April 2024, M*Halle

 

Haltet euch fest.
Das Musiktheater bereitet zum Spielzeitende ein spektakuläres Projekt mit hochspannenden Künstlerinnen vor.
Premiere 30. Mai 2024, Großes Haus

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