Erstes Handlungsballett von Chefchoreografin Xenia Wiest: Nacht ohne Morgen

Nacht ohne Morgen (c) Silke Winkler

Im ersten Handlungsballett für das Schweriner Publikum von Chefchoreografin Xenia Wiest begegnen wir einem Reisenden, dessen Weg die vier apokalyptischen Reitern kreuzen. Dramaturgin Patricia Stöckemann verfolgt Krieg, Hunger, Pestilenz und Tod von der Offenbarung des Johannes bis in die Gegenwart.

 

Im wilden Galopp jagt ein apokalyptisches Reiter-Geschwader über die Erde hinweg, fegt die Menschen nieder und überlässt sie einem gefräßigen Höllenschlund. Das vierköpfige Reitergespann scheint aus dem Nichts zu kommen und im Nirgendwo zu verschwinden, nur mit dem Ziel vor Augen, Unheil zu säen, Terror zu verbreiten, zu zerstören, zu töten.

 

Albrecht Dürer führt uns dieses biblische Horrorszenario einer Nacht ohne Morgen in seinem Holzschnitt Die vier apokalyptischen Reiter von 1511 vor Augen und damit die Schrecken des Strafgerichts Gottes, wie es in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments, bildstark geschildert wird. Johannes schaut zuerst vier Dämonengestalten, Reiter, die mit der Öffnung der ersten vier Siegel nacheinander erscheinen, jeder auf einem Pferd eigener Farbe: weiß, feuerrot, schwarz, fahl. Unheilboten und Unheilbringer mit denen die Katastrophen von dämonischer Täuschung, Krieg, Gewalt, Hunger, Tod hereinbrechen. Schon die Farben der Pferde verheißen Furchtbares. Rot: Gewalttätigkeit, Blut und das Strafgericht Gottes durch Feuer. Schwarz: Not, Hunger, Wirtschaftsterror. Fahl: (Pest-)Tod und Hades als vorläufiger Ort der Verstorbenen. Weiß: Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit des Himmels. Doch diese Farbe wird von dem antichristlichen ersten Reiter als Tarnung missbraucht. Mit seinem weißen Pferd gibt er sich als Messias aus: das Lamm Gottes. Durch die Ähnlichkeit mit Christus gelingt ihm die perfekte Täuschung, ein Machtmissbrauch, um als falscher Prophet, zusammen mit seinem apokalyptischen Reitergefolge, die Menschheit zu drangsalieren, die Welt an den Abgrund und in eine Nacht ohne Morgen zu führen.   

 

Von apokalyptischen Szenarien, wie sie die biblische Endzeiterzählung der Offenbarung des Johannes bereithält, scheint auch unsere Gegenwart bestimmt, in der Katastrophen bedrohlichen Ausmaßes und überwältigender Intensität allgegenwärtig sind: Naturkatastrophen, Gewaltexzesse, Terror, Kriege, Epidemien, massenhafte Flucht und Vertreibung, ungebremster Kapitalismus, soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung. Doch worin unterscheidet sich die biblische Apokalypse des Johannes von apokalyptischen Erzählungen der Gegenwart und Vergangenheit? In der Offenbarung greift eine göttliche Macht in das Geschehen ein. Apokalypse bedeutet Enthüllung, Offenbarung „göttlichen Wissens“ und Kundgabe von Verborgenem. Was Johannes in bildreichen Visionen zum Ausdruck bringt, versteht sich als von Gott eröffneter Einblick in eine himmlische Wirklichkeit, als eine „prophetische Tiefenschau“ und letztgültige Sinndeutung der Geschichtsereignisse bis hin zu dem, was mit Gewissheit bevorsteht. Denn biblische Apokalyptik ist keine Zukunftsvorhersage. Sie trifft eine Aussage über die Gegenwart auf der Basis kritischer Reflexion von geschichtlichen Begebenheiten, indem sie die dramatischen Erfahrungen der Vergangenheit auf die Jetztzeit projiziert und die bereits erlebte Katastrophe als Zukunft ankündigt, sollte es nicht zur Umkehr kommen.

 

Nicht Pessimismus und Fatalismus durchdringen die Offenbarung des Johannes, nicht der Kampf ums nackte Überleben, sondern Ermutigung und Trost. Denn am Ende der Erzählung steht kein Untergangsszenario, sondern das Hoffnungsbild einer neuen Gesellschaftsordnung und Welt, die mit dem „richtigen“ Messias die Nacht ohne Morgen überwindet.

 

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Text von Patricia Stöckemann

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